Marl / Haltern. Es wird wohl einer der ungewöhnlichsten Orte gewesen sein, an denen je eine christliche Andacht gehalten wurde - und auch Bezirksapostel Brinkmann, reiseerfahren und sicher mit vielen Flecken der Weltlandkarte vertraut, musste eingestehen, dass eine Wiederholung eher unwahrscheinlich ist, zumal die Geschichte des Bergbaus in Deutschland leider eine in wohl absehbarer Zeit endende ist. Dies prägte ofensichtlich auch die Empfindungen der etwa 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich gesund und stark genug fühlten, mehr als tausend Meter Gestein in der Nähe von Schacht 8 des Bergwerks Auguste Victoria in Marl über sich zu ertragen.
Natürlich kam der Gedanke, im Bezirk Recklinghausen einmal eine Andacht "unter Tage", wie es bergmännisch heißt, durchzuführen, nicht von ungefähr.
Nahezu alle Gemeinden des Bezirkes Recklinghausen blicken auf eine enge Verbindung zum Bergbau zurück. So war es zum Beispiel vor etwa zwei Generationen nicht ungewöhnlich, dass alle ehrenamtlich tätigen Seelsorger einer Gemeinde vom Diakon bis zum Vorsteher im Bergbau tätig waren. "Auf Schicht" arbeitete man zusammen, wohnte häufig in Bergbaukolonien nebeneinander Wand an Wand und sah sich dann auch noch, wenn "Schicht am Schacht" war, in der Kirche oder bei der Gemeindearbeit. Ein "dicht an dicht", das in der heutigen sich immer mehr anonymisierenden Gesellschaft kaum noch denkbar und für den einen und anderen vielleicht sogar unerträglich geworden zu sein scheint.
Aus dieser engen Verbindung zu diesem traditionellen und das Ruhrgebiet überragend prägenden Handwerk heraus reifte der Gedanke heran, seitens der Neuapostolischen Kirche im Rahmen des Kulturereignisses Ruhr.2010 ein Signal der Verbundenheit zu setzen.
Eduard Nieland, Bezirksvorsteher und lange Jahre im Bergbau tätig, griff den einmal gesponnenen Faden auf und webte daraus mit Frank Beran, Vorsteher der Gemeinde Herten-Westerholt, aktiver Bergmann und Leiter eines Knappenchores, eine sich immer mehr verdichtende Idee, die in den letzten Monaten sehr konkret wurde.
Dank der guten Beziehungen zum Bergwerk Auguste Victoria und einer außerordentlichen Kooperations- und Hilfsbereitschaft des Bergwerkes, insbesondere der dortigen Abteilung "Öffentlichkeitsarbeit", war es letztlich möglich, den Gedanken am 13. November 2010 umzusetzen - und das erforderte einiges an Vorleistung. Sind sonst die Besuchergruppen 10 bis 15 Personen stark, sollten dieses Mal im Rahmen der geplanten Andacht ca. 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zuzüglich 20köpfigem Knappenchor "einfahren". Dazu galt es, den Streb für die Andacht vorzubereiten: Fast 100 Sitzplätze in über 1.000 Metern Tiefe auf einem nicht gerade Bühnenparkett gleichenden Boden einzurichten, eine Mikrofonanlage und Podeste funktionsfähig aufzustellen, dazu eine Orgel in die Tiefe zu verbringen - das erledigt sich nicht mal eben nebenbei, klappte aber völlig reibungslos.
Vor der Einfahrt in das Bergwerk trafen sich jedoch alle Besucher in der sog. "Infostrecke", einem Nachbau eines Strebs über Tage.
Dort ließ es sich Werksleiter Jürgen Kröker nicht nehmen, die Gruppe persönlich zu begrüßen und in einem ausführlichen Vortrag mit vielleicht nicht immer bekannten Details des Bergbaus, seiner Geschichte und seiner Zukunft bekannt zu machen. Neben einer Einführung in die Strukturen der Ruhrkohle AG (RAG) wurde insbesondere auch die auf politischer Ebene beschlossene Rückführung der Produktion und der damit einhergehende (sozialverträgliche) Personalabbau dargestellt. Alles bis zum Jahr 2018 auf Null zu fahren, wird, so der Werkleiter, kein Spaziergang. Alleine bis zum Jahr 2012 soll im Bereich des Bergbaus bundesweit ein Stellenabbau von 17.000 Mitarbeitern erfolgen. 7.500 weitere werden in den nächsten fünf Jahren versetzt. Viele müssen sich beruflich völlig neu orientieren - eine Steilwand für die Branche.
Neben diesem unerfreulichen Thema kann der Bergbau jedoch auch mit Stolz auf seine technische Marktführerschaft auf dem Weltmarkt schauen: Deutsche Technologie ist durchweg gefragt, die Verleihung von Preisen für innovative Produkte keine Seltenheit.
Natürlich wurde den Besuchern im Anschluss an den Vortrag auch deutlich gemacht, was deutsche Sicherheitsstandards bedeuten: Eine ausführliche Einweisung in die Grubentauglichkeit, eine Vorstellung des Filterselbstrettungssystems und allgemeine Sicherheitshinweise standen selbstverständlich auf dem Programm, bevor es dann um die Herstellung der Grubentauglichkeit ging. Ein dicker Fahrmantel und ein Schutzhelm wurden für jeden obligatorisch - und dass die Sicherheit Vorrang hatte, merkte man spätestens bei der Andacht: Kein "Helm ab zum Gebet!" unter Tage. Sicher ist sicher, Schutzhelm vor Gottvertrauen, lautet möglicherweise die bergmännische Devise.
In zwei übereinander liegenden Körben, jeweils gefüllt mit etwa 40 Personen, ging es dann rauschend in die Tiefe. 12 Meter pro Sekunde, ratternd durch ein tiefes Schwarz in einem so wenig mit den komfortablen Kaufhausfahrstühlen vergleichbaren Eisenkäfig. Die Ohren knackten, es tropfte Undefinierbares von oben herab, locker ging es fast doppelt so tief in die Erde herunter, wie es die Bergleute in Chile waren. Rumpelnd dann das Fahrtende auf der 6. Sohle: Tiefste Stelle, Endstation, 1.113,5 Meter. Das darf sacken.
Erstaunlich groß, nahezu im Bahnhofshallenformat, öffnete sich dann jedoch direkt der vom Schacht wegführende Streb: Fertig bestuhlt, ein wenig dekoriert, der Knappenchor in traditioneller Tracht: Es bot sich schon ein Bild, das sich einbrennt in das Gedächtnis.
Unter diesem Eindruck wirkte die sich dann anschließende Andacht doppelt stark.
Bezirksapostel Brinkmann, in seinen Worten sehr dem Bergbau, den ehemaligen und vielen Generationen an Bergleuten zugewandt, blickte zurück in die Geschichte des Bergbaus, die bereits in der Heiligen Schrift Erwähnung findet. Insbesondere die Metaphorik von "Grube", "Finsternis" und "Tiefe" sei ein Bild von Trauer, Verzweifelung und tiefer Not. "Ich bin gleich denen geachtet, die in die Grube fahren" zitierte er aus dem 88. Psalm Vers 5. "Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe", heißt es dort weiter im 7. Vers.
Dass die Geschichte der Grubenunglücke schon viele hundert Jahre alt ist, erfuhren die Teilnehmer auch im Laufe der Andacht: So ist bereits im Jahr 1376 ein Unglück mit mindestens 100 Toten in Rammelsberg bei Goslar verzeichnet - zu einer Zeit, als man noch davon ausging, dass die Erde eine Scheibe sei.
Auch das Grubenunglück von Alsdorf (1930) mit 271 Toten und 304 Verletzten floss in die Andacht ein - stellvertretend für die vielen kleinen und großen, bekannte und unbekannte Unglücke, die sich weltweit ereignen.
Instrumentalbeiträge von Philipp Kujath (Orgel) und Meike Lackmann (Querflöte) sowie kräftige, mit Inbrunst und Gottvertrauen vorgetragene Lieder des Knappenchores rundeten die Andacht sowie die weiteren Wortbeiträge von Apostel Rainer Storck und Eduard Nieland, Bezirksvorsteher in Recklinghausen, ab, bevor es dann nach einer guten Stunde wieder "über Tage" ging.
Sicherlich - die Strebe, in denen die Kohle aktuell abgebaut wird, zum Teil 10 Kilometer vom Schacht entfernt, konnten nicht in Augenschein genommen werden. Dies war aber auch nicht das Anliegen der "Wallfahrer in den Berg". Die Andacht sollte im Mittelpunkt stehen, nicht ein spezifischer Blick über die Schulter des "Kumpels" vor Ort, der schwitzend, malochend, häufig an der Grenze körperlicher Reserven stehend, dafür sorgt, dass bei uns "der Ofen nicht aus" ist.
Der Nachmittag klang nach der Andacht und der Ausfahrt mit einem gemeinsamen Imbiss in der Infostrecke aus, die zuvor schnell und unauffällig in eine Art Stehcafé umgerüstet worden war. Gegen 18 Uhr lichtete sich die Gruppe - und jeder konnte mit sehr persönlichen Eindrücken die Heimfahrt antreten.
Neben allen mitwirkenden Kräften, an welcher Position auch immer, sei insbesondere den Musikern und dem Team des Bergwerks um Frau Sonja Zadler gedankt, das für einen reibungslosen Ablauf sorgte. Ein besonderer Dank sei nochmals an Herrn Jürgen Kröker gerichtet, der einen Samstagnachmittag bei vermutet wenig Freizeit sicher auch anders hätte gestalten können. Er hat es nicht.
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